Ein Lehrer auf Queshm Island

Seit wir die Fahrräder nachhause gesendet haben, schlafen wir nicht mehr oder selten im Zelt. Entweder buchen wir eine Unterkunft oder übernachten bei fremden Leuten auf deren Teppichen. Dadurch trafen wir viele Menschen und bekamen einen tiefen Einblick in deren Leben. Wie immer gab es dadurch sehr schöne Erlebnisse und bereichernde Momente, sowie schlechtere Erfahrungen. In nur wenigen Tagen werden wir den Iran verlassen und mit der Fähre nach Dubai übersetzen. Heute, mit etwas Abstand zu der Sache, realisierte ich für mich etwas sehr Wichtiges, worüber es mir Wert ist diesen Blogbeitrag zu verfassen. Ich fand kein passendes Beitragsbild, deshalb seht ihr hier ein Kamel. Ist hübsch, oder? 😉

Jeder Gastgeber auf der Reise war für mich wie ein Lehrer, wobei ich bei jeder Begegnung etwas lernen durfte. Beim genauen zuhören konnte ich noch immer etwas mitnehmen, sozusagen einen neuen Input. Dies ist einer der Gründe warum ich das Reisen so sehr liebe.

Einige lernten mir neue Dinge wie das Kochen eines traditionellen Gerichtes oder zeigten mir die Herstellung traditioneller Kleider. Andere zeigten mir mit deren Lebensstil Wege auf, wie man auch leben kann. Tönt ein bisschen tiefgründig, ich weiss. Ein Beispiel dafür ist nicht immer unterwegs zu sein, sondern die Ruhe und Zweisamkeit zuhause zu genießen. Damit meine ich sich nicht in Aktivitäten zu verrennen und ständig etwas kompensieren zu wollen. Sondern einfach mit dem Zufrieden zu sein, wo man hat.

Etwas anderes ist der minimalistische Lebensstil. Es gibt viele Leute die aus einem Trend raus ihr Hab & Gut verkleinern und dann rum posaunen dass sie jetzt minimalistisch Leben. Bullshit, Sorry! Wir sahen einige Leute die gewollt oder ungewollt wirklich minimalistisch leben. Darunter zähle ich mich mittlerweile auch ein bisschen 😉 Ich meine wenn du 45 Tage die gleichen Hosen, Hemd und Kopftuch trägst ist geht das in diese Richtung.

Oder noch das Letze was mir auffiel ist, Leute zu beherbergen aus aller Welt um seinen Horizont Zuhause zu erweitern. Vielleicht kann oder will man nicht Reisen und hat so eine Möglichkeit „die Welt“ zu sich zu holen. Spannender Ansatz.

Nebst den beschriebenen positiven Dingen, gab es auch Momente, wo ich etwas sah oder hörte, welches mich in meiner jetzigen Denkweise bestätigte. Ein gutes Beispiel dafür ist mein Sauberkeits-Standard. Ich fühle mich wohl, wenn eine Grundsauberkeit herrscht. Das Unterwegssein hat die Spannweite zwar erweitert, aber grundsätzlich mag ich kein dreckiges Zuhause. Es ist jedem selbst überlassen wie er lebt, ganz klar. Aber in dieser Hinsicht bin ich froh um die Schweizer-Gesellschaft, welche ein Gespür hat, wann der Bogen überspannt ist und man besser die Türe nicht öffnet 😉 (da spreche ich nicht von ein bisschen staub 😉

Nebst den verschiedenen Lebensstilen regten mich auch Diskussionen zum nachdenken an. Ich war immer sehr interessiert herauszufinden, weshalb die Leute so leben wie sie leben. Ein tolles Beispiel für tiefgründige Diskussionen erlebten wir mit unserem Host auf der Insel Queshm. Reza, so war sein Name ist reflektierter und spannender Mensch.

Wir wollten eigentlich auf der Insel zelten, weil wir zuvor kein Hotel oder Warmshower-Platz fanden. Kurz bevor wir das Zelt stellten erhielten wir doch noch eine Nachricht von einem Warmshowers. Er meinte, dass er selbst nicht Zuhause sei, aber einen Freund hätte. Wir sollen uns bei ihm melden, vielleicht hätte er Lust uns zu beherbergen. Gesagt getan & schon standen wir bei Reza vor der Türe. Er ist mitte Dreißig, lebt alleine und arbeitet im Büro etwas, was ihm keine Freude macht. Er entschied sich eine Ausbildung zum Lebenscoach zu machen, um sich ein zweites Standbein aufzubauen.

Nach Abschluss rutschte er ohne triftigen Grund in eine tiefe Depression. Es brauchte viel Zeit, um wieder in ein normales Leben zu finden. Auch ich teilte meine Ansichten und Erfahrungen zu diesem Thema. Daraus entstand eine tiefgründige Diskussion über Lebensthemen und Fragen. Wir sprachen darüber, wie fest die Wahrnehmung resp. die Denkweise ausmacht àla „Das Glas ist halbvoll“ unsere Entscheidungen resp. unser ganzes Leben beeinflusst.

Speziell im Iran gibt es einige Themen, mit welchen man unterschiedlich umgehen kann und damit das Lebensglück glaube ich schon beeinflussen. Das gleiche gilt auch in der Schweiz. Vielleicht versteht man jetzt noch nicht ganz auf was ich hinaus möchte, deshalb ein paar Beispiele.

Seit wir im Iran sind werden wir immer wieder mit zwei Tatsachen konfrontiert. Das erste ist die instabile Währung und die stetige Verteuerung durch die Inflation. Das zweite ist, dass der iranische Pass kaum an Wert hat, was für internationale Reisen ein Erschwernis darstellt. Diese beiden Punkte nahmen fast ausnahmslos alle als sehr schlimm war – Sie bemitleideten sich dafür.

Reza aber nicht – Er stimmte zwar der sinkenden Kaufkraft zu. Er hat aber im Gegensatz zu seinen Mitmenschen die Idee entwickelt sich ein zweites Standbein aufzubauen, um am Schluss ein Einkommen zu erwirtschaften, womit es sich solid leben lässt. Er ist also kein Opfer des Systems, sondern versucht trotz den widrigen Umständen für sich einen guten Weg zu finden. Diese Lektion nenne ich mal: „Jeder ist seines Glücks Schmied“.

Und bezüglich des Passes zeigt er mit vergangenen Reisen in die Türkei, nach Georgien oder Armenien, dass man auch die Nachbarländer (oder was halt möglich ist) entdecken kann, anstelle traurig Zuhause zu sitzen. Es ist also viel gescheiter sich auf das zu konzentrieren was „möglich“ ist, anstelle sich immer an nicht mögliches zu erinnern. Du denkst jetzt sicher, ist ja logisch. Für mich trotzdem eine wichtige Lektion, ich benenne sie mal: „Im Auge des Betrachters“.

Wir erzählten ihm einige Situationen im Iran, wo wir aufgrund unseres Touri-Status beschissen wurden. Auch erklärten wir, dass dies in der Schweiz nicht passieren würde. Jedes Brot hat seinen Preis, bei der Bergbahn herrscht kein Rassismus und jeder kann ein Paket versenden auf der Post. Darauf meinte er, dass er die „Diskriminierung“ der Touris auch nicht gut findet. Wenn ein Iranischer-Bäcker zum Beispiel 5‘000 Fladenbrote verkauft, was gewinnt er schon, wenn er uns anstelle 30 Rappen 60 Rappen verrechnet.

Die Diskussion ging weiter und wir erwähnten, dass es uns da nicht ums Geld geht, sondern ums Prinzip. Er meinte dann (wahrscheinlich, weil wir das sagten wegen dem Geld), dass er das Gefühl hat, das Domi und Ich „Luxuriös Reisen“ im Vergleich zu Menschen die er zuvor hostete.

Er erinnerte sich an eine Familie aus Deutschland, welche auf der Insel Queshm war und keinerlei Geld ausgab, um die Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Auch spendeten sie kaum Geld für Essen oder andere Dinge.

Wir waren beide etwas perplex darüber, dass Reza meint wir seien luxuriös unterwegs. In unserer Wahrnehmung war das Gegenteil der Fall. Wir schauen sehr bewusst auf unsere Ausgaben, weil wir lieber länger Reisen anstelle für „Seich“ Geld auszugeben. Klar gönnen wir uns Dinge, aber das ist für uns weit weg von „Luxus“.

Wir fragten nach, weshalb er dies dachte über uns. Er erklärte wiederum, dass die Deutsche Familie kein Geld ausgab. Wir im Gegensatz mieteten ein Taxifahrer, entdecken die Insel mit allen kostenpflichtigen Sehenswürdigkeiten, kaufen vielseitige Lebensmittel ein und kochen richtige Menüs.

Wir waren froh, teilte er seine Gedanken mit uns. Aus dieser Perspektive haben wir das noch nicht angeschaut. Für uns war „unser“ Weg bisher recht normal und wir nutzten die Chance Reza unsere Sicht der Dinge zu erklären.

Zum Taxifahrer: Die Insel ist ziemlich groß und es gibt viel zu entdecken. Das Taxi inkl. Fahrer kostete uns 20 Dollar pro Tag. Ein 4×4 Fahrzeug (hätten wir noch mehr gesehen von der Insel) wäre zwei oder dreimal so teuer gewesen.

Bevor wir uns für die 20-Dollar Fahrt entschieden, wägten wir ab. Bringt uns der 4×4 Mehrpreis den gewünschten Effekt? Eher nein. Ist der Betrag gerechtfertigt? Ja sehr. Für uns waren die 10 Dollar zu diesem Zeitpunkt für sinnvoll investiert. Wir sahen die ganze Insel, konnten stoppen wo immer wir wollten und hatten einen gewissen Komfort bei fast 50 Grad draußen. Uns war es das Wert, weil wenn wir das Geld nicht ausgegeben hätten, wären wir zwar dort gewesen aber hätten am Schluss keine Erinnerung an den Ort. Reza verstand es nun.

Beim essen war es tatsächlich so, dass wir uns speziell Mühe gegeben haben für Reza zu kochen weil wir etwas zurückgeben wollten. Es macht uns Spaß ausgewogen zu kochen und dafür nehmen wir auch ein paar Dollars mehr in Kauf. Grundsätzlich schauen wir beim Einkauf auf den Preis und kaufen Budget-bewusst sein. Wenn wir aber das Gefühl haben ein Preis ist gerechtfertigt, dann kaufen wir das Produkt – Auch wenn es im Totalen dann mehr kostet.

Das Material, wovon Reza den Eindruck hat, dass es neu war – Mussten wir auch relativieren. Insbesondere Domi schaut extrem gut zu unserer Ausrüstung. Er ist ein bisschen ein Freak, ja, aber am Schluss hat er mehr als Recht. Die minimale Pflege gibt kaum einen Aufwand und dafür lebt alles viel länger.

Zum Beispiel den Benzinkocher kurz zu warten ist eine kleine Sache, dafür läuft er dann wieder mehrere Monate ohne Probleme.

Wir glauben Reza hat Begriffen um was es geht. Die Deutsche Familie ist jetzt für ihn nicht mehr die goldene Kuh. Klar sollte man auf das Geld schauen insbesondere beim Langzeit-Reisen, aber am Ende lebst du nur einmal und bist wahrscheinlich nur einmal dort wo du gerade bist – also gehört genießen auch dazu! Diese Lektion bekam den Namen „Spende dein Geld weise“.

Wir blieben zwei Nächte, wir hätten auch zwei Wochen bleiben dürfen. Es war richtig lustig zusammen und Reza half mir sogar noch einen Termin bei der Kosmetikerin zu bekommen. Stell dir mal die Situation vor, wenn ein Mann im Iran beim Kosmetik-Salon anruft. Kam gar nicht gut an, aber meine buschigen Augenbrauen waren dankbar für die Terminvereinbarung 😉.

Wir hoffen, dass wir Reza irgendeinmal wieder treffen und dort weiterfahren können wo wir aufgehört haben. Auch sind wir ihm noch ein Glas Lotus-Creme-Aufstrich schuldig – dass haben wir wortwörtlich gefressen, so lecker war es.

Rebi Oktober 2022