Der lange Weg nach Chile

Chile ist nicht um die Ecke. Nach über 40 Stunden Reisezeit und sieben Sicherheitskontrollen später stimme ich dem zu. Wo genau Chile liegt begriff ich selbst erst, als ich mir die Karte auf dem Entertain-Bildschirm im Flugzeug zu Gemüte führte. Wenn du den Atlas aufgeschlagen hast, gehst du mit deinen Augen zuerst zur Schweiz. Von dort links rüber und dann runter, Voila dort, 12‘000km von zuhause entfernt liegt das nur 117 km breite aber 4‘270 km lange Land. Wie unser Kontinenten-Wechsel vonstattenging und warum wir froh um unsere Picknick-Berge waren, erfährst du im Blog.

Mittelschweden, am 22. November, 15.00 Uhr, draussen stockdunkel und 40 cm Schnee. Am Winter mag ich, wenn es draussen flöckelt und ich drinnen bin. Und die gemütliche Atmosphäre und die Weihnachtliche Dekoration. Aber das war es dann schon. Das ganze „Winter-Zeugs“ rundherum ist mehr für die anderen, nicht für mich. Ich vermute, dass ich bei der Geburt für warm programmiert wurde und so war es für mich höchste Eisenbahn das winterliche Schiff zu verlassen.

Am letzten Abend luden uns Renate und Stefan auf ein Raclette ein, wir genossen jeden Bissen. Ausnahmsweise verzichteten wir auf ein Glas Wein, am nächsten Tag wollten wir fit für die Reise sein. Wir hatten, wie immer super Gespräche, etwas was wir schon jetzt vermissen. Nachdem essen überreichte ich den beiden noch mein Abschiedsgeschenk, einen Adventskalender. Ein paar Brunsli und Spitzbuben später gingen wir zu Bett.

Ring…Ring…RIIING. 05.45 Uhr, der Wecker war aggressiv drauf. Puh, immer mit der Ruhe dachte ich mir und stellte den Alarm aus. Eigentlich bin ich ein „Früher-Vogel-Typ“, in Schweden verschob sich alles ein wenig, weshalb sich diese Zeit wie mitten in der Nacht anfühlte. Gut lagen die Kleider bereit, so waren wir auch noch halbschlafend in der Lage uns anzuziehen.

Während Ich die Taschen zum Auto trug, packte Domi unser Essen ein. Neun Sandwich, Früchte, Gemüse, Eier und einen ganzen Berg Snacks. Der Rucksack platzte aus allen Nähten. Frühere Erfahrungen zeigten aber, dass Essen auf einer solchen Reise essenziell werden kann – Von dem her hatten diese Unmengen schon ihre Berechtigung.

Bevor uns Stefan zur Busstation fuhr, aßen wir noch zusammen Frühstück. Ich schnitt mir ein extra großes Stück rezenter Schlossberger Käse ab, im Wissen, das es der letzte gute Käse sein könnte, für wer weiss wie lange. Der anschließende Abschied war sehr emotional. Die beiden haben das Herz am rechten Fleck, hatten viel für uns getan, wofür ich unendlich dankbar bin.

Nach zweiendhalbstunden Busfahrt standen wir in der Abflughalle des Flughafen Arlandas. Immer sage ich, wenn sich das Wifi an einem Ort automatisch verbindet, ist es wie ein Heimkommen. So war es auch am Flughafen, wir waren schon ein paar Mal dort. Als unser Gepäck Richtung Frachtraum verschwand, machten wir ein Stoßgebet, dass die Taschen bitte bis nach Santiago de Chile mitkommen.

Für einmal dachten wir sogar daran unser Wasser vor der Sicherheitskontrolle auszuleeren. Es ging Ruck-Zug, schon ein paar Minuten später saßen wir beim Gate und aßen genüsslich unsere ersten Sandwich.

Dabei schauten wir dem geschäftigen Flughafen-Treiben zu. Fliegen wurde so normal sagten wir zueinander. Es machte der Anschein, dass fliegen für viele ähnlich ist, wie wenn wir an den Bahnhof gehen, um von A nach B zu kommen. Unsere Diskussion über das positive und negative am Luftweg wurde durch eine Durchsage unterbrochen. Unser Flieger von Arlanda nach Frankfurt hatte Verspätung.

Normalerweise kein Problem, dieses Mal aber suboptimal. Wir mussten einen Anschlussflug erwischen und hatten nur eine Stunde Umsteigezeit. Im Flugzeug erklärte der Pilot, wer jetzt schuld daran sei. Bla-Bla dachten wir uns, jetzt musst du „ad Seck“ Pilot, sonst wird das nichts mehr hier. Hüüü!

Während der Landung meldete sich der Pilot wieder zu Wort: „Wir haben immer noch Verspätung. Ich habe keine Informationen erhalten wegen den Anschlussflügen“. Merci, diese Info war jetzt gut.

In diesem Moment hätte jemand das Zepter übernehmen müssen. Kurz prüfen welche Passagiere ihren Weiterflug noch erwischen könnten und diese zuerst aussteigen lassen. Ich bot schon an das zu managen, Domi bremste mich aber. Wir wollten ja nach Santiago und nicht ins Flughafen-Gefängnis. 😉

Das Erlöschen des Anschnall-Signals war gleichzeitig der Panik-Startschuss. Es fühlte sich niemand verantwortlich und so schlugen sich die Business-Leute ihre überdimensionierten Handgepäck Koffer um die Ohren. Eine Frau drückte mich an den Sitz mit den Worten: „Ich muss hier durch“. Ich schenkte ihr ein Lächeln und zeigte ihr meine breiten Schultern. Hätte sie mich noch einmal geschubst hätte ich sie an die Wand gedrückt. Oder sie übers Knie genommen. Oder „abgeschlungnet“, vom früheren Schwingsport hätte ich da schon meine Mittelchen gehabt. Ok, ok ich beruhigte mich wieder – In solchen Situationen hinterfrage ich immer das Wesen Mensch. Wie behämmert und egoistisch kann man sein?

Vor der Reise hätte mich diese Situation gestresst, ein Flug verpassen – Ojemine. Mittlerweile konnte ich das viel besser nehmen. Es ist nur ein Flug und vielleicht schafften wir es ja noch.

Im Menschen-Gewirr suchten wir uns den Ausgang. Erst jetzt fiel mir auf wie viele Leute eine Maske trugen. Gleichzeitig waren sie mir aber so nahe, dass Corona der Weg auch durchs Ohr oder durch die Haarwurzel hätte finden können.

Item. Als wir im Zwischengang angekommen sind starteten wir unseren Flughafen-Sprint. Wir mussten das Terminal wechseln. Meine Lunge brannte wie noch selten als wir 10 Minuten vor Abflug am Gate ankamen. Wir hatten alles gegeben und noch mehr. Als ich die noch offene Tür sah machte mein Herz ein Freudensprung. Erleichtert streckte ich der Schalter-Frau meinen Pass entgegen. Ihre Worte: „Gate zu seit 2 Minuten“ halten noch lange nach.

Fassungslosigkeit trifft es gut. Wir versuchten zu erklären, dass unser Flieger Verspätung hatte und dass doch die Tür noch auf sei und, und, und. Alles nützte nichts, wir wurden ans Lufthansa Service-Center verwiesen. Mit hängenden Köpfen suchten wir den Schalter.

Kundendienst am Flughafen, für uns eine neue Erfahrung. Gespannt wie das abläuft, warteten wir in der Schlange. Ich war am Multitasken. Einerseits recherchierte ich „unsere Rechte“ und anderseits beobachtete ich die Mitarbeiter und die Kunden.

Ich hatte mir mein Bild gemacht. Es gab Mitarbeiter, die waren mit Herzblut an der Arbeit und versuchten für jeden Kunden eine stimmige Lösung zu finden. Und dann gab es noch die anderen, zu so jemanden durften wir. Wir wurden behandelt wie die letzten Hunde. Hätten wir das Flugzeug selbst fliegen können, wären wir nicht zu spät gewesen du bl*** Kuh…waren natürlich meine Gedanken und nicht meine Worte. Immer schön freundlich bleiben war die Devise. Domi spürte wohl, wie ich innerlich kochte. Spätestens wenn man keine Freude mehr am Job hat, sollte man den Sessel räumen, meine Meinung.

Uns wurde eine Option offeriert: Flug via Sao Paulo (Brasilien) noch am gleichen Abend. Umsteigezeit wiederum nur eine Stunde. Auf meine Frage, ob eine Stunde reicht, bekam ich eine abschätzende Antwort: „Ich würde das doch nicht offerieren, wenn es nicht geht. Es steht so im System. Aber ich war noch nie dort“.

Aha, Aha, ich griff schon Mal zum Flyer mit der Kontaktadresse für meine Beschwerde! Uns blieb nichts anderes übrig und so schlugen wir uns die nächsten Stunden am Flughafen um die Ohren. Als Entschädigung erhielten wir einen Voucher von je 15 Euro. Davon konnten wir uns sogar zwei Kaffees mit etwas dazu leisten.

Längst hätte das Boarding starten sollen. Die Airline agierte ganz nach dem Motto: „Wenn wir nichts sagen, merkt niemand das wir zu spät sind“ und so betraten wir 50 Minuten zu spät das Flugzeug.

Rechts von mir saß ein Mann, welcher extra für ein Bootsersatzteil nach Sao Paulo fliegt. Er trank fünf Becher Wein und machte komische Witze. Je mehr er trank, je unheimlicher wurde er. Irgendwann sagte er, dass er jetzt nicht mehr aufstehen würde auch wenn ich auf Toilette musste. Das irritierte mich sehr. Domi meinte das war sicher nur ein Witz. Auch er hatte einen spannenden Sitzplatz. Links von ihm saß eine Frau mit einer Katze. Es lief richtig bei uns. Es war eine enge Angelegenheit, aber wir waren froh hatten wir überhaupt einen regulären Platz. Hätte auch sein können das LATAM irgendwo eine Bank runterklappt, um uns noch mitzunehmen.

Es war schon fast Mitternacht, als auch die Holzklasse (also wir) ein Menü serviert bekamen. Ich zog am Deckel des warmen Alubehälters, meine Augen sahen Tortellini und meine Nase roch sonst was. Wir pickten uns die Rosinen des Menüs und schliefen dann ein. Wir hofften sehr, dass wenn wir aufwachen, der Pilot die Verspätung eingeholt hatte.

Das Miauen der Katze weckte uns, sie hatte wohl Hunger. Ihr Herrchen schlief noch. Ein Blick auf den Display holte uns zurück in die Realität. Keine Minute konnte das Flugzeug aufholen. Die Ankunft in Sao Paulo war „Copy-Paste“ zu Frankfurt. Wiederum rannten wir wie Kambundji und Bolt. Und das noch mit den warmen Strümpfen bei sommerlichen Temperaturen.

Bei der ersten Sicherheitskontrolle realisierten wir: Wir waren nicht mehr in Europa. Hier gelten andere Gesetze. Ich versuchte einer Flughafen-Mitarbeiterin zu erklären, dass wenn wir schnell durch Gehen konnten, wir den Flieger noch erwischen würden. Das interessierte herzlich niemand und so verstrich Minute um Minute.

Endlich erreichten wir das Gate. Ein gelangweilter Mitarbeiter lehnte am Tresen. Mit dem Arm zeigte er zur Glasscheibe und erklärte auf Spanisch, dass unser Flieger gerade über die Bahn rollt.

Darf man in einem Blog fluchen? „Gopferda**i nonemau“. Wir versuchten alles mit Humor zu nehmen. Bevor wir irgendetwas weiter unternehmen konnten, musste ich erstmal meine Strümpfe ausziehen. Wir waren jetzt im Sommer.

Wir suchten das Servicecenter, ohne Erfolg. Wir fanden aber eine Frau, die von Lufthansa für solche Fälle angestellt war. Sie war überfordert, als Resultat passierten wir weitere zweimal die Sicherheitskontrolle. Danach mussten wir ihr einmal quer durch den Flughafen folgen.

Klack, Klack irgendeinmal hatte sie entweder keine Lust mehr weiterzulaufen oder ihre Absatzschuhe schmerzten zu fest. Auf jeden Fall forderte sie uns auf in „Brasilien auszureisen“ und danach wieder „einzureisen“.

Dieser Prozess dauerte 2-3 Stunden und wir haben jetzt einen Brasilien Stempel. Durch unseren „Aufenthalt“ in Brasilien hatten wir Zugang zum Lufthansa-Büro. Wenn man den so sagen kann. Eigentlich war es ein langer, schmaler und düsterer Gang. Wir kamen uns vor wie in einem schlechten Film. Um uns schwitzende, halb verzweifelte Leute. Während wir an der Wand lehnten, knabberten wir an einem Brezel, welchen wir mit unserem Voucher gekauft hatten.

Etwa eine Stunde später kam Hektik auf, weil ein paar Frauen mit Klack-Klack Schuhen mit einem Stapel Papier aus dem Büro kamen. Auch wir bekamen etwas ab, nämlich ein Fresszettel. Dazu gab es die Anweisung wiederum bei LATAM einzuchecken. Auf die Frage, ob wir einen Voucher erhalten würden, weil wir Hunger hatten, bekamen wir folgende Antwort: Ihr habt nicht genügend Zeit, um zu essen bis zum Abflug.

Es waren noch zwei Stunden bis zum Abflug, rate Mal wer noch Sandwich und Snacks übrighatte und glücklich war darüber. An alle die unsere Essensberge belächelten, hier ist die Antwort darauf 😉.

18.00 Uhr, Santiago de Chile. Wir hatten es geschafft. Nur einen halben Tag später als geplant erreichten wir unsere finale Destination.

Schön brav deklarierte ich die Resten Hafer-Knäckebrot bei der Einreise, es interessierte aber niemand. Durch all die Unsicherheiten unterwegs buchten wir im Vorfeld keine Unterkunft. Es hätte auch sein können, dass wir erst einen Tag später ankommen würden. Oder gar nicht. Oder sonst wo landen.

Wir setzten uns erschöpft auf eine Bank und verschafften uns einen Überblick über die Unterkunfts-Möglichkeiten. Der Gewinner war ein preiswertes Airbnb für eine Nacht. Wir haben uns fest vorgenommen künftig nicht immer den schwierigsten Weg zu nehmen, sodass wir auf die Anreise mit ÖV verzichteten. Stattdessen luden wir eine Transport-App runter und umgingen so die Geldgierigen Taxifahrer.

Ende gut, alles gut? Naja, so ca. Das Airbnb stellte sich als merkwürdiger Ort heraus. Wenigstens konnten wir uns etwas ausruhen und gingen früh schlafen.

Das Fazit ist, dass wir uns alles etwas anders vorgestellt hatten. Aber wir waren froh und dankbar schafften wir es auch noch bis nach Chile. Nun waren wir richtig bereit für alles, was kommt und freuten uns auf das bevorstehende Abenteuer.

Rebi Dezember 2022